Das Neue Evangelium Deutschland, Italien, Schweiz 2020 – 107min.
Filmkritik
Moderne Variante der Leidensgeschichte
Die Passionsgeschichte, soziale Missstände der Gegenwart, die Lage der Flüchtlinge, die beeindruckenden Höhlensiedlungen Materas – dies alles und noch weit mehr bringt Milo Rau in „Das Neue Evangelium“ zusammen. Es ist ein gewagtes, eigenwilliges filmisches Experiment – geprägt von schnörkelloser Direktheit und klaren Botschaften.
Würde Jesus heute über dieselben Dinge predigen wie zu seiner Zeit? Für was und wen würde er sich einsetzen? Wer wären seine Jünger, wer würde ihm folgen? All diese komplexen Fragen versucht der Schweizer Theater- und Filmregisseur Rau zu beantworten. Als Jesus besetzte er den Aktivisten Yvan Sagnet, der seine Jünger in den Flüchtlingslagern und in der Landwirtschaft rund um die süditalienische Stadt Matera findet.
Es ist ein anspruchsvolles, herausforderndes Werk, das Rau hier vorlegt. Ein Film, der seine Wirkung nicht verfehlt und sich in der Kommunikation seiner unmissverständlichen Botschaften einer gewaltigen Zahl an Verweisen bedient. Allein diese Reminiszenzen und historischen Andeutungen machen den Mix aus Spielfilm, Doku und politischem Theater sehenswert. Manche sind subtil eingestreut, andere überdeutlich und offenkundig.
Zu letzteren zählen die Wahl des Drehortes und des Filmtitels. Rau und sein Team aus professionellen Schauspielern und Laiendarstellern drehten in Matera. Jener, für ihre Höhlensiedlungen und Felsenkirchen weltbekannten Stadt, in denen schon zwei der bekanntesten «biblischen Filme» entstanden: Pier Paolo Pasolinis auf dem Matthäus-Evangelium basierender Klassiker «Das 1. Evangelium» (1964) und Mel Gibsons Skandalfilm „Die Passion Christi“ (2004). Einige der Darsteller jener Filme treten auch in «Das neue Evangelium» auf.
Im Titel verweist Rau auf jene Leidensgeschichte nach Matthäus, die – übertragen auf die essentiellen Probleme unserer Zeit – nichts an Aktualität verloren hat. Leid und Schmerz damals für Jesus am Kreuz und heute für die unzähligen Flüchtlinge, die ihre Liebsten bei der Fahrt über das Meer verlieren. Oder die, wenn die Überfahrt gelang, nicht selten in unterbezahlten Jobs schuften und in unmenschlichen Unterkünften hausen müssen.
Einige jener Feldarbeiter und Geflüchteten spielen die Jünger von Jesus. Sie hoffen auf gerechte Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen. Natürlich sind diese Ungerechtigkeiten sowie die Ausbeutung Geflüchteter nicht wirklich neu. Dennoch wagte es bislang noch niemand, die Themen Armut und sozialer Abstieg in einer Art Theateraufführung in die Passionsgeschichte einzubetten. Das ist mutig und unmissverständlich in der Aussage. Apropos Theater: bewusst setzt Rau auf das Unfertige und Spontane, etwa wenn die Statisten ihre provisorischen Gewänder über ihren Jeans tragen. Diese betont schlichte, improvisierte Herangehensweise verleiht dem Film etwas Puristisches und eine ganz eigene, individuelle Note.
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Kommentare
Der Film war sehr berührend und herzergreifend. Die meisten Szenen waren der Realität sehr nahe und daher umso tiefgründiger. Die Weiterempfehlung meinerseits steht!!
Es hat ein paar wirklich gute Szenen, aber als Ganzes überzeugt mich der Film nicht. Im wesentlichen sind es zwei Handlungen nebeneinander - die ausgebeuteten Schwarzrbeiter in Süditalien und die Geschichte mit Jesus und seinen Jüngern. Ich erhoffte mir, dass die zwei Geschichten mehr miteinander in Wechselwirkung sind. Schade, da wäre mehr drin gelegen.… Mehr anzeigen
Zuletzt geändert vor 3 Jahren
Die erwähnten Jeans unter der historischen Kostüm geben dem ganzen ungewohnte Tiefenschärfe. Ein Pilatus, der sich später zu den Smartphone-Hobby-Filmern stellt. Am meisten fährt wohl die casting-Szene ein, wo ein 'Soldat' einen Stuhl geisselt. Man schlägt den Esel und meint den Treiber, mann schlägt den Wehrlosen und schlägt alle Wut auf die, die nichts dafür können. Rassismus als Psychohygiene. Beklemmt frag ich mich: Ist das jetzt wirklich nur gespielt?… Mehr anzeigen
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